Hafenstraße 96 – Gedenken und Anklagen

Am 16.01.2021 waren wir mit etwa 300 Menschen auf den Straßen Lübecks um gegen das Vergessen und für eine antirassistische Erinnerungskultur einzutreten. Im Folgenden unser Redebeitrag:

Françoise – Christine – Miya – Christelle – Legrand – Jean-Daniel – Monique – Nsuzana – Sylvio – Rabia

Das sind die Namen, die wir jedes Jahr im Januar hören, seit 25 Jahren. Diese zehn Namen gehören zu zehn Menschen, die ich nie kennengelernt habe. Ich stelle mir vor, wie sie heute vielleicht leben würden, was sie vielleicht gemacht hätten, welche Bücher sie vielleicht lesen würden oder welche Filme sehen. Denn es sind Menschen, denen die Chance genommen wurde, Bücher zu lesen oder Filme zu gucken oder überhaupt irgendetwas zu tun. Wir hören jedes Jahr im Januar ihre Namen und glauben, ihre Geschichte zu kennen. Als Geflüchtete nach Deutschland gekommen, hier in einer Sammelunterkunft gelandet, dann, am 18. Januar 1996, ermordet. Doch das ist nicht ihre Geschichte, es ist ein winzig kleiner Teil davon, ein Fragment. Aber eines, das aus den Menschen, die sie einmal waren, gesichtslose Tote gemacht hat. Es ist ein Fragment, das zur Geschichte von sehr vielen Menschen gehört, die nach Deutschland gekommen sind. Rassistische Morde sind Alltag geworden. Aufgeklärt werden sie selten und noch seltener durch die Polizei.

Weniger gesichtslos sind die Täter, die diesen zehn Menschen aus der Hafenstraße ihr Leben genommen haben. Denn auch, wenn der Brandanschlag als unaufgeklärt gilt, auch, wenn Staatsanwaltschaft und Polizei es nicht wahrhaben wollen: Für uns sind die Täter klar – Neonazis aus Grevesmühlen waren in der Tatnacht am Tatort, hatten versengte Augenbrauen und andere Spuren von Feuer an Körper und Kleidung, sie haben in derselben Nacht Benzin in Kanistern an einer Tankstelle gekauft – und Geständnisse gibt es auch. Sie zur Verantwortung zu ziehen, sie mit einem zehnfachen Mord nicht davonkommen zu lassen, ist unsere Aufgabe. Aber dabei bleibt es nicht. Denn wir müssen auch verhindern, dass Neonazis in Deutschland weiter morden können. Dazu gehört, sich Rassismus in jeder Form entgegenzustellen, Betroffenen zuzuhören und bedingungslos zu glauben, Neonazistrukturen aufzudecken, aber auch, Polizei und Staatsanwaltschaft auch für ihre Verantwortung zur Rechenschaft zu ziehen. Denn es hat Struktur, dass nicht einmal Mordgeständnisse von Neonazis in Ermittlungen mit einbezogen werden! Es hat Struktur, dass man in Deutschland lieber über Rassismus und Neonazis schweigt, als sich einzugestehen, dass Deutschland noch immer ein Naziproblem hat.

Und es hat Struktur, dass nichtweiße Menschen bei der Polizei nicht sicher sind: Das wird uns schmerzlich bewusst, wenn wir die Namen Oury Jalloh, Achidi John, Amad Ahmad, Hussam Fadl, Laye-Alama Conde, Christy Schwundeck hören. Denn auch diese Namen gehören zu Menschen, denen die Chance genommen wurde, zu leben. Ihnen wurde von deutschen Polizist*innen das Leben genommen. Oury Jalloh und Amad Ahmad wurden in Zellen verbrannt. Hussam Fadl und Christy Schwundeck wurden erschossen. Achidi John und Laye-Alama Conde wurden durch die Zwangsverabreichung von Brechmitteln getötet, was Olaf Scholz von der SPD erst möglich gemacht hat. Das zeigt uns: Auf den Staat können wir nicht hoffen. Die Aufklärung und das Verhindern von Morden und Brandanschlägen wie dem in der Hafenstraße müssen wir selbst in die Hand nehmen.

Deshalb stehen wir hier – mit Trauer im Herzen und Wut im Bauch. Gegen Nazis, die morden und einen Staat, der mitmacht.

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