Wolfi Landstreicher: Arbeit – Raub des Lebens

Der Wecker unterbricht deinen Schlaf erneut – wie immer viel zu früh. Du schleppst dich von deinem warmen Bett zum Badezimmer, um eine Dusche zu nehmen, dich zu rasieren und zu kacken, dann rennst du zur Küche runter, wo du Pasteten machst oder, wenn du Zeit hast, ein bisschen Toast mit Eiern und einer Tasse Kaffee. Dann eilst du zur Tür raus, um gegen den Verkehrsstau oder die vielen Menschen in der Metro anzukämpfen, bis du endlich ankommst… bei deiner Arbeit, wo du deinen Tag mit Aufgaben verbringst, die du dir nicht selbst ausgesucht hast, in aufgezwungener Gemeinschaft mit anderen, die mit damit zusammenhängenden Aufgaben beschäftigt sind, da ist die fortwährende Reproduktion der sozialen Beziehungen das wichtigste Ziel, was dich dazu zwingt, auf diese Art und Weise zu überleben.

Aber das ist nicht alles. Als Ausgleich erhältst du einen Lohn, eine Summe von Geld, die du (nach Bezahlen der Miete und der Rechnungen) in die Einkaufszentren tragen musst, um Nahrung, Kleider, verschiedene Notwendigkeiten und Unterhaltungswaren zu kaufen. Obwohl dies als deine „freie Zeit“ angesehen wird, ist auch sie eine obligatorische Aktivität, welche dein Überleben nur sekundär garantiert, sein primärer Grund ist wiederum die Reproduktion der sozialen Ordnung. Und für die meisten Menschen sind von diesen Zwängen freie Momente immer seltener.

Nach der herrschenden Ideologie dieser Gesellschaft ist diese Existenz das Resultat eines sozialen Vertrages zwischen Gleichen – gleich vor dem herrschenden Gesetz. Der /die ArbeiterIn, heisst es, ist damit einverstanden, seine/ihre Arbeit dem/der ChefIn für ein gegenseitiges Einverständnis über den Lohn zu verkaufen. Aber kann ein solcher Vertrag als frei und gleich angesehen werden, wenn die eine Seite die ganze Macht in Händen hält?

Wenn wir diesen Vertrag etwas genauer betrachten, wird es klar, dass es überhaupt kein Vertrag ist, sondern die extremste und gewalttätigste Erpressung. Am offensichtlichsten tritt dies am Rande der kapitalistischen Gesellschaft auf, wo Menschen, die für Jahrhunderte (oder, in einigen Fällen, Jahrtausende) nach eigenen Bedingungen gelebt haben, plötzlich ihre Möglichkeiten zur Selbstbestimmung ihrer Lebensbedingungen vernichtet, und dies als das Werk von Bulldozern, Kettensägen, Bergbaumaschinen etc. der Herrschenden dieser Welt. Aber es ist ein Prozess, der sich über Jahrhunderte erstreckte, von offensichtlichem und grossflächigem Raub von Land und Leben, der durch die herrschende Klasse erzwungen und ausgeführt wurde. Der Mittel beraubt, ihre Lebensbedingungen selbst zu bestimmen, kann nicht mehr ernsthaft behauptet werden, dass die Ausgebeuteten frei und gleich mit ihren AusbeuterInnen Verträge abschliessen können. Es ist ein klarer Fall von Erpressung.

Und was sind die Bedingungen dieser Erpressung? Die Ausgebeuteten werden gezwungen, Zeit ihres Lebens an ihre AusbeuterInnen im Austausch für das Überleben zu verkaufen. Und dies ist die wirkliche Tragödie der Arbeit. Die soziale Ordnung der Arbeit gründet auf dem auferlegten Gegensatz von Leben und Überleben. Die Frage, wie jemand überleben wird, unterdrückt die Art, wie jemand leben will, und mit der Zeit scheint dies alles natürlich und mensch beschränkt die eigenen Träume und Wünsche auf die Dinge, die mit Geld gekauft werden können.

Wie auch immer, die Bedingungen der Arbeitswelt lassen sich nicht nur auf diejenigen anwenden, die eine Arbeit haben. Es ist leicht zu sehen, wie die Arbeitslosen voller Angst vor Obdachlosigkeit und Hunger von der Arbeitswelt ergriffen sind. Aber dieselben sind Empfänger von Staatshilfe, dessen Überleben auf der Beistands-Bürokratie basiert… sogar diejenigen, für die die Vermeidung einer Arbeit eine solche Priorität bekommen hat, dass die eigenen Entscheidungen um Betrug, Ladendiebstahl, Müll kreisen – eben all den verschiedenen Wegen, um ohne einen Job durchzukommen -, sind davon ergriffen. Mit anderen Worten werden Aktivitäten, die gute Mittel zur Unterstützung eines Lebensprojekts sein könnten, selbst zu abgeschlossenen Aufgaben oder Zielen, indem das reine Überleben zum Lebensprojekt wird. Inwiefern unterscheidet sich dies denn wirklich von einem Job?

Aber was ist denn die wirkliche Basis der Macht hinter dieser Erpressung, welche die Arbeitswelt darstellt? Natürlich gibt es Gesetze und Gerichte, Polizei und Militär, Geldstrafen und Gefängnisse, die Angst vor Hunger und Obdachlosigkeit – all die sehr realen und bedeutenden Aspekte der Herrschaft. Aber sogar die staatliche Waffengewalt kann nur dann ihre Aufgaben erfolgreich durchführen, wenn die Menschen sich unterwerfen. Und hier finden wir die wirkliche Basis jeglicher Herrschaft – die Unterwerfung der Sklaven, ihre Entscheidung, die Sicherheit der bekannten Not und Dienerschaft zu akzeptieren, statt das Risiko der ungekannten Freiheit einzugehen, also ihre Einwilligung, ein garantiertes, aber farbloses Überleben zu akzeptieren im Austausch für die Möglichkeit eines wirklichen Lebens, das eben keine Garantien bietet.

Um also der eigenen Sklaverei ein Ende zu setzen, um über die Grenzen des blossen Überlebens hinaus zu gelangen, ist es notwendig, sich für die Verweigerung der Unterwerfung zu entscheiden; es ist notwendig damit zu beginnen, sich das eigene Leben hier und jetzt wieder anzueignen. Durch ein solches Projekt gerät mensch unvermeidlich in einen Konflikt mit der gesamten sozialen Ordnung der Arbeit; also muss das Projekt der Rückeroberung der eigenen Existenz auch das Projekt der Zerstörung der Arbeit sein. Um Missverständnissen vorzubeugen: Wenn ich „Arbeit“ sage, meine ich damit nicht die Aktivität, wodurch die Mittel der eigenen Existenz geschaffen werden (welche idealerweise niemals vom einfachen Leben getrennt sein würden), sondern eine soziale Beziehung, welche diese Aktivität in eine vom eigenen Leben getrennte Sphäre transformiert und sie in den Dienst der herrschenden Ordnung setzt, so dass die Aktivität eigentlich aufhört, irgend eine direkte Beziehung zur Bildung der eigenen Existenz zu haben, sondern sie bloss im Reich des Überlebens aufrecht erhält (unabhängig vom Grad des Konsums) durch eine Serie von Entfremdungen, von welchen Eigentum, Geld und Warenaustausch zu den wichtigsten gehören.

Dies ist die Welt, welche wir zerstören müssen im Prozess der Rückeroberung unserer Leben, und die Notwendigkeit dieser Zerstörung macht das Projekt der Wiederaneignung unseres Lebens eins mit dem Projekt des Aufstands und der sozialen Revolution.

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